Agiles Management und Agile Führung – diese Schlagworte geistern zurzeit durch so manche Unternehmen und suggerieren: “Alles muss sich in puncto Führung ändern.“ Ist das wirklich so? Oder ist die vielbeschworene Agilität, zumindest wenn es um das Thema Führung geht, alter Wein in neuen Schläuchen?
Eine zentrale Forderung der Protagonisten des Agilen Managements lautet: (Mitarbeiter-)Gruppen und Teams sollten mit wenig Regeln und Bürokratie geführt werden, um zum Beispiel beim Entwickeln und Umsetzen neuer Ideen schneller und flexibler zu werden. Das klingt modern und richtig – doch ist das wirklich neu? Nein, denn:
- Eine gute Führung – von einzelnen Mitarbeitern und Teams – hatte schon immer agile Anteile. Und:
- Agilität im Team zu fordern, also flexibel im Denken und Verhalten zu sein, ist eine Grundhaltung von Führungskräften.
Spätestens seit Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – damals hielt die Gruppendynamik Einzug in die Führungslehre im deutschsprachigen Raum. Fortan wurde Führung als interaktiver Prozess verstanden, und zentrale Forderungen an Führung lauteten: Die Potenziale der Mitarbeiter sollen stärker genutzt und entfaltet werden. Der „Chef“ hingegen sollte sich zurücknehmen. Und nicht er oder einzelne Experten sollten die Prozesse planen; vielmehr sollten die Sichtweisen der Teammitglieder genutzt werden, um tragfähige Lösungen zu entwickeln.
In den Folgejahren stieg die Zahl gruppendynamischer Führungsseminare kontinuierlich – bis in die 80er Jahre. Seitdem ist ihre Zahl rückläufig, obwohl „agile Führung“ nichts anderes von Führungskräften fordert. Vieles was heute unter dem Stichwort Agilität debattiert wird, kann man schon in den Klassikern der gruppendynamischen Führungsliteratur lesen – zum Beispiel in Klaus Antons Buch „Praxis der Gruppendynamik“ (Erstauflage 1973).
Gute Führung hatte schon immer agile Anteile
Die „Erfinder“ des sogenannten Situativen Führens Paul Hersey und Ken Blanchard betonten bereits: Führungskräfte sollten abhängig von der Situation und vom Reifegrad der Mitarbeiter unterschiedlich agieren. Im Führungsalltag kann man mehrere Führungssituationen unterscheiden, in denen ein unterschiedlicher Führungsstil angebracht ist, wenn man sich folgende Fragen stellt:
a: Ist die Situation überschaubar/planbar oder eher ungewiss?
b: Bin ich als Führungskraft eher als expertenorientierter Leiter gefragt oder ist eine prozesshafte Führung angesagt?
Vor einer genaueren Betrachtung dieser Führungssituationen und -stile gilt es jedoch zu klären: Wann ist eine Situation ungewiss und nicht überschaubar? Ungewissheit ist ein Zustand, der von folgenden Situationen unterschieden werden sollte:
a: Eine Situation ist riskant: Eine Situation ist riskant, wenn sie mit Risiken behaftet ist, also ein Schaden entstehen kann. Rauchen ist zum Beispiel riskant – jedoch nicht ungewiss. Denn die mit dem Rauchen verbundenen Risiken sind bekannt und abschätzbar. Risiken sollte man vermeiden oder minimieren. Hierbei können Experten helfen.
b: Eine Situation ist unsicher: Eine Situation ist unsicher, wenn Risiken bestehen, jedoch unklar ist, ob der Schaden eintritt. In Zusammenhang mit dem Rauchen sollte man nicht von „unsicher“ sprechen, denn die Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlichen Schädigung ist auf Dauer sehr hoch. Das Wetter hingegen ist oft eine unsichere Angelegenheit, der man jedoch mit Maßnahmen (wie angemessener Kleidung, Blitzableiter) begegnen kann. Das heißt. auch hier sprechen wir von einer Situation, in der der mögliche Schaden vorhersehbar und (meist) vermeidbar ist
Ungewiss ist eine Situation hingegen, wenn ein Erheben und Berechnen aller Einflussfaktoren nebst ihren Wechselwirkungen nicht möglich ist. Also kennen wir auch nicht die Risiken, die damit verbundenen potenziellen Schäden und die Wahrscheinlichkeit, dass sie eintreten. Deshalb ist die Situation nicht planbar.
In unserer sich immer schneller verändernden Welt nehmen die Zustände von Ungewissheit im Betriebsalltag zu. Für das Management steigt somit die Komplexität. Weiterhin gilt jedoch: Nicht alle Führungssituationen sind komplex. Die meisten Situationen und Aufgaben sind weiterhin überschau- und planbar. So gibt es zum Beispiel in der Buchhaltung wenig unplanbare Situationen und Aufgaben, die eine agile Führung erfordern.
Ungewissheit besteht im Management jedoch häufig
- bei strategischen Fragen,
- bei Fragen des Change-Managements und
- in Situationen, in denen viele Interessen und Einflussfaktoren zu beachten sind und die ein zügiges Handeln erfordern.
Hier ist das agile Führen eine gute Alternative zu einer unsicheren oder unmöglichen Planung. Hierfür ein aktuelles Beispiel: die Flüchtlingskrise. Bei ihr ist eine mittel- und langfristige Planung nur bedingt möglich – aufgrund der vielen Einflussfaktoren, Stakeholder und des akuten Handlungsdrucks. Bei ihr musste die Politik zumindest im vergangenen Jahr, als plötzlich Millionen Flüchtlinge kamen, „auf Sicht fahren“.
Ähnlich ist es in Unternehmen. Auch in ihnen gibt es zunehmend Situationen, in denen zum Beispiel längerfristige Zielvereinbarungen unsinnig sind, weil die Situation ungewiss ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass Zielvereinbarungen generell unsinnig sind. Insbesondere für das Managen des Alltagsgeschäfts, wenn man „auf Sicht segeln“ kann, haben sie weiterhin ihre Funktion.
Welcher Führungsstil ist angemessen?
Welcher Führungsstil beziehungsweise welches Führungsverhalten angemessen ist, hängt von der Führungssituation ab. Generell lassen sich vier Führungsstile unterscheiden (siehe Grafik):
Quelle: Modell Klaus Kissel aus Führen 3.0.
Die Situation ist chaotisch, also ungewiss; die Führungskraft ist als expertenorientierter Leiter und Entscheider gefragt.
In chaotischen, also ungewissen Situationen geht es nicht so sehr darum, ob eine Führungskraft alle Fragen beantworten und entscheiden kann. Entscheidender ist: Die Situation erfordert eine rasche Entscheidung und ein entschiedenes Handeln. In solchen Situationen – also zum Beispiel Krisensituationen – ist eine direktive Führung nötig. Eine prozesshafte Führung wäre falsch. In solchen Situationen muss die Führungskraft das Ruder an sich reißen, rasch Entscheidungen treffen und klare Anweisungen erteilen.
Hierfür ein Beispiel: Am 11. September 2001, als die Türme des World Trade Center in New York einstürzten, war dieser Führungsstil gefragt. Deshalb wurde der entschieden und (scheinbar) autoritär handelnde Bürgermeister von New York zum Star. Seine (einsamen) Entscheidungen hätten jedoch auch falsch sein können, denn die Situation und ihre Auswirkungen waren ungewiss. Dieses Risiko müssen Führungskräfte in solchen Situationen tragen: Sie können zum Helden oder Sündenbock werden. In ungewissen Situationen lautet die die entscheidende Frage, die sich Manager stellen sollten: „Wie viel Zeit hat das System beziehungsweise gewährt mir die Situation, um eine Lösung zu erarbeiten?“ Abhängig von der Antwort müssen sie mehr oder weniger agil oder autoritär handeln.
Die Situation ist planbar. Die Führungskraft handelt entweder selbst als Experte oder delegiert die Verantwortung hierfür an einen Experten. Lehren meint: Die Führungskraft gibt die eigene Expertise als Mentor an Mitarbeiter weiter.
In der Einarbeitungsphase neuer Mitarbeiter oder wenn diese neue Aufgaben übernehmen, ist dieser Führungsstil meist angemessen. Dann gilt es den Mitarbeiter mit dem Wissen zu versorgen, das er zum Erledigen seiner Aufgaben braucht. Die Führungskraft fungiert in dieser Situation als Mentor oder Coach des Mitarbeiters. Sie definiert die Ziele und gibt Feedback. Und wenn der Mitarbeiter über das nötige Wissen und Können verfügt? Dann delegiert sie auch die Verantwortung für die Aufgabe an ihn. In vielen Führungstrainings in den zurückliegenden Jahrzehnten wurde der Eindruck vermittelt, dieser Führungsstil sei in fast allen Führungssituationen – außer Krisensituationen – angebracht. Im Betriebsalltag gibt es jedoch auch viele Routineprozesse, die schlicht gemanagt werden müssen.
Die Situation ist überschau- und planbar. Die Führungskraft führt prozesshaft, um die Mitarbeiter mitzunehmen und deren Intelligenz zu nutzen.
Eine Situation ist überschaubar, wenn aufgrund der äußeren Einflussfaktoren ein klares Ziel definiert werden kann. Je klarer das Ziel bestimmt werden kann, umso stärker greifen Elemente des Projektmanagements. Die Führungskraft agiert teilweise wie ein Projektmanager und managt den Prozess zur Zielerreichung – unter anderem, indem sie mit ihrem Team Meilensteine auf dem Weg zum Ziel definiert und deren Erreichen feiert.
Die Situation ist unklar und ungewiss. Die Führungskraft führt prozesshaft.
Dieser Führungsstil ist angesagt, wenn in einer Situation weder das Ziel noch der richtige Weg dorthin von der Führungskraft oder anderen Experten beschrieben werden kann – zum Beispiel aufgrund der vielen Einflussfaktoren oder komplexen Ausgangslage. Statt zu versuchen, alle Einflussfaktoren zu erfassen und die Komplexität mit Hilfe von Planung zu managen, ist es dann zielführender, im Agieren zu lernen – also zügig in die Umsetzung zu gehen und beim Gehen zu lernen.
Ein Lernen durch Ausprobieren, Scheitern, Reflektieren und Verbessern, praktizieren Kleinkinder, wenn sie lernen, aufzustehen. Wie dies genau geht, können wir Kindern in diesem Alter nicht wirklich erklären. Wir können sie bei diesem Lernprozess nur unterstützend, motivierend begleiten. Denn der Prozess des Aufstehens ist komplex, und es gibt Hunderte von Möglichkeiten, wie man vom Boden in eine Standposition kommen kann. Wichtig ist das Ergebnis und nicht der Weg.
Agiles Führen macht Sinn, wenn
- es viele Einflussfaktoren gibt, die kaum zu berechnen sind,
- es an der Zeit ist, die eigene Expertise für die Lösung zu hinterfragen,
- die Führungskraft auf die Weisheit des Teams vertrauen darf und
- Ausprobieren, Testen und Lernen eine gute Alternative zum Planen und Managen sind, um zu neuen, kreativen Ideen und Lösungen zu gelangen.
Überträgt man das oben erwähnte Kleinkind-Beispiel auf die Haltung einer agilen Führungskraft, hat sie zahlreiche Möglichkeiten, ihr Team in Bewegung zu bringen. Sie sollte dabei
- klar machen, dass sie das Team in Bewegung bringen möchte,
- einen Rahmen (zeitlich, themenzentriert etc.) für das Entwickeln einer Lösung setzen und
- am Ende entscheiden oder eine Entscheidung herbeiführen.
„Agil führen“ heißt, Gruppen für eine komplexe Herausforderung zu begeistern und die Intelligenz der Gruppe zu nutzen. Dabei kann sich die Führungskraft am Ende des Prozesses auch für eine Minderheiten-Meinung im Team entscheiden. Wichtig ist, sie führt eine Entscheidung herbei.
Agile Führung ist auch in anderen Unternehmensbereichen als der IT gefragt. Das sei an einem Beispiel illustriert: ein neues Produkt soll mit Hilfe des Vertriebsteams im Markt eingeführt werden.
Das klassische Führungsverhalten: Die Führungskraft entwickelt alleine oder unterstützt von ein, zwei Experten einen Plan für die Produkteinführung und eine Strategie für die Kundenansprache. Diese werden den Verkäufern in einem Meeting vorgestellt. Nach einer kurzen Diskussion werden der Plan und die Strategie den Mitarbeitern verordnet. Bei einem solchen Vorgehen sind der Lerneffekt und die Motivation zur Umsetzung meist niedrig. Also ist es nicht dienlich, wenn eine möglichst große und nachhaltige Wirkung erzielt werden soll.
Agile Führung: Die Führungskraft stellt zum Beispiel das Produkt und die mit seiner Einführung verbundene Herausforderung dem Vertriebsteam vor. Dieses teilt sich dann in drei Untergruppen auf, die verschiedene Ansprache-Strategien erarbeiten. Diese werden anschließend in einer Praxisphase bei ausgewählten Kunden getestet und die Erfolge dann in einem Review-Meeting reflektiert. Bei einem solchen Vorgehen ist die Identifikation mit der Lösung höher und das Expertenwissen wird breiter genutzt. Zudem kommt das Team schnell ins Handeln, also Ausprobieren und Tun. Damit Führungskräfte – nicht nur im Vertrieb – einen solchen Führungsstil leben können, müssen sie oft erst in Richtung prozesshafter Führung ausgebildet werden.
Zum Autor: Klaus Kissel ist einer der beiden Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales & Managementberatung, Urbar bei Koblenz (www.ifsm-online.com). Der Systemische Coach und Organisationsentwickler ist unter anderem Autor des Buches „Prinzip der minimalen Führung“ (Windmühle-Verlag).
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