Durch Industrie 4.0 und Digitalisierung sind Unternehmen vor allem im Mittelstand ständigen Veränderungsprozessen ausgesetzt. Lean-Management- und KVP-Initiativen kommen häufig zu kurz. Mittelstand Berater setzen auf das Shopfloor Management.
Wie kann Mitarbeitern auf der wertschöpfenden Ebene die Kompetenz vermittelt werden, Verbesserungschancen selbst zu erkennen und eigenständig zu nutzen – und um die so Innovationsgeschwindigkeit zu erhöhen? Das fragen sich viele Unternehmen, weil der Veränderungsbedarf in ihnen kontinuierlich steigt.
Aufgrund der steigenden Dynamik der Wirtschaft können größere Unternehmen immer schwieriger erfassen,
- welcher Änderungs- und Verbesserungsbedarf auf der operativen Ebene in ihrer Organisation besteht und
- welche Fähigkeiten ihre Mitarbeiter (künftig) zum Erfüllen ihrer Aufgaben brauchen.
Hieraus zogen viele Unternehmen den Schluss:
- Die Kompetenz zum Erkennen des Veränderungsbedarfs muss sich weitgehend auf die operative beziehungsweise wertschöpfende Ebene, auch Shopfloor-Ebene genannt, verlagern. Und:
- Unsere Mitarbeiter und Führungskräfte in der Produktion müssen die Kompetenz entwickeln, den bei ihnen bestehenden Qualifizierungsbedarf selbst zu erkennen und weitgehend eigeninitiativ und -verantwortlich zu befriedigen.
Gänzlich neu ist dieses Ansinnen nicht. Ähnliche Entwicklungsziele wurden im Rahmen der Lean-Management- und KVP-Initiativen vieler Unternehmen in den zurückliegenden Jahrzehnten formuliert. Diese zielten jedoch meist primär darauf ab, die Prozesse und Abläufe in einzelnen (Produktions-)Einheiten zu optimieren. Ein solcher Ansatz greift heute – in einer Zeit, in der die Unternehmen unter solchen Stichworten wie „Digitale Transformation und „Industrie 4.0“ grundsätzlich darüber nachdenken, wie sie künftig produzieren – zu kurz.
Zwar bleibt das Bemühen, das Bestehende zu optimieren, im Tagesgeschäft ein wichtiges Ziel; zugleich gilt es jedoch, auf allen Hierarchieeben den erforderlichen Mindset und die nötige Kompetenz zu entwickeln, um
- tradierte Problemlösungen zu hinterfragen,
- Chancen für neue Problemlösungen zu erkennen und
- diese unter Nutzung neuer Technologien und Verfahren zu implementieren.
Denn nur dann können Unternehmen in der von rascher Veränderung und geringer Planbarkeit geprägten VUCA-Welt die nötige Reaktionsgeschwindigkeit entfalten und die immer häufiger erforderlichen Musterwechsel vollziehen.
Shopfloor Management: Einen Kulturwandel in der Produktion herbeiführen
Angestrebt wird beim Shopfloor Management also letztlich ein Kulturwandel in den Unternehmen. Und damit einher geht neben einer gestiegenen Wertschätzung der wertschöpfenden Ebene ein Verlagern von Entscheidungskompetenzen auf diese.
Dies kann in Unternehmen zu Wildwuchs führen, sofern kein bereichs-, funktions- und hierarchieübergreifendes Commitment darüber besteht:
- Was ist unsere Vision und welche langfristigen strategischen Ziele wollen wir als Organisation erreichen?
- Welche Etappenziele müssen wir auf dem Weg dorthin passieren? Und:
- Durch welche Maßnahmen wollen wir diese Ziele erreichen?
Deshalb existiert in fast allen Unternehmen, die das Shopfloor Management forcieren, ein Managementsystem, das darauf abzielt, ein solches Allignment zu erzeugen. Häufig handelt es sich hierbei um das Planungs- und Steuerungssystem Hoshin Kanri, auch Policy Deployment genannt.
Dieses System zeichnet sich dadurch aus, dass das Top-Management mit allen Führungskräften der nächsten Ebene zunächst die Unternehmensvision und -strategie entwickelt und hieraus dann sogenannte Breakthrough- oder Durchbruch-Ziele ableitet. Hieraus werden wiederum in sogenannten Zielklausuren die jährlichen Hoshin-Ziele abgeleitet, die die Meilensteine zum Erreichen der Breakthrough-Ziele sind.
Die Hoshin-Ziele werden nach ihrer Festlegung wie beim Führen mit Zielen auf die nächsten Ebenen kaskadiert. Dabei erfolgt jedoch nach dem Definieren der Ziele und Erstellen der Pläne eine crossfunktionale Abstimmung zwischen den Abteilungen und Teams; des Weiteren eine Verständigung über die Maßnahmen, mit denen die Ziele erreicht werden sollen, sowie die Kennzahlen, mit denen der Fortschritt beziehungsweise Erfolg gemessen wird (siehe Abbildung 1).
(Abbildung 1: Crossfunktionale Abstimmung mit Hoshin Kanri)
Über die Ziele, Maßnahmen und Kennzahlen werden die Mitarbeiter auf der Shopfloor-Ebene nicht nur informiert, sie werden auch auf Managementboards in den Produktionseinheiten visualisiert. Denn jeder Mitarbeiter soll wissen:
- Was ist unser Auftrag und was sind die Ziele unseres Teams?
- Mit welchen Kennzahlen wird der Grad der Zielerreichung gemessen?
- Wie hoch ist aktuell die Abweichung des Ist- vom Soll-Zustand? Und:
- Welche Verbesserungsschritte/Maßnahmen sind geplant?
Hierüber findet in regelmäßigen Shopfloor-Meetings eine Verständigung statt, so dass jeder Mitarbeiter jederzeit die aktuellen Planungen und den aktuellen Grad der Zielerreichung kennt.
Shopfloor Management-Tool 1: der PDCA-Zyklus
Beim Planen und Umsetzen der Maßnahmen im Arbeitsalltag spielt der PDCA-Zyklus eine Schlüsselrolle. Er besteht aus vier Phasen.
Phase 1: Plan. In ihr werden das Problem und der Ist-Zustand beschrieben sowie die (Kern-)Ursachen des Problems analysiert. Außerdem wird der Ziel-Zustand formuliert und werden Messgrößen für das Erreichen des Ziel-Zustands definiert.
Phase 2: Do. In ihr werden die Maßnahmen zum Erreichen des Ziel-Zustands fixiert.
Phase 3: Check. In ihr werden die beim Umsetzen der Maßnahmen erzielten Ergebnisse reflektiert und diese bei Bedarf nachjustiert.
Phase 4: Act/Adjust. In ihr werden die im Prozess der Problemlösung gesammelten Erfahrungen evaluiert und hieraus Standards für das künftige Vorgehen ableitet.
Diesen Prozess durchlaufen die Arbeitsteams stets, wenn sie ein Problem oder eine Verbesserungschance erkannt haben. Dann wird ein neuer PDCA-Zyklus gestartet, mit dem Ziel einen neuen Standard im Unternehmen zu etablieren, der als Basis für weitere Verbesserungen dient.
Shopfloor Management-Tool 2: der A3-Report
Ein Hilfsmittel hierbei ist der A3-Report. Hierbei handelt es sich um ein Formblatt im A3-Format. Auf ihm sind in Anlehnung den PDCA-Zyklus die sieben Analyse- und Arbeitsschritte notiert, die es beim Lösen eines Problems zu durchschreiten gilt. Der A3-Report ist ein Instrument zum Lösen von Problemen; außerdem soll er den Denkprozess beim Probleme-lösen für die Mitarbeiter transparent machen. Das Ziel hierbei: Bei den Mitarbeitern soll ein Lernprozess angestoßen werden, der zu einem tieferen Verständnis der Probleme führt und ihnen die Kompetenz vermittelt, nachhaltige Lösungen für diese zu entwickeln (siehe Abbildung 2).
(Abbildung 2: A3-Report-Formblatt)
Der PDCA-Zyklus und der A3-Report sind nur Tools, die beim Shopfloor Management zum Einsatz kommen. Sie allein bewirken – ebenso wie das Managementsystem Hoshin Kanri – bei den Mitarbeitern und ihren Führungskräften weder das erforderliche Bewusstsein, noch die nötige Kompetenz, um eigenständig Verbesserungschancen zu erkennen und zu nutzen.
Mittelstand Berater bringen Führungskräfte zum Lean-Leader
Eine Schlüsselrolle beim Entwickeln dieses Bewusstseins und dem Aufbau dieser Kompetenz spielen beim Shopfloor-Management die Führungskräfte. Ihre Funktion wandelt sich zum Coach und Mentor vor Ort ihrer Mitarbeiter. Statt administrative Aufgaben zu erledigen, sollen sie sich an den „Gemba“, also Ort des Geschehens, begeben und dort bei ihren Mitarbeiter durch Kommunikation und Wissenstransfer ein besseres Verständnis der Prozesse und Probleme bewirken und sie beim Finden von Lösungen unterstützen. Dabei lautet das übergeordnete Ziel: Ihre Mitarbeiter sollen zunehmend die Kompetenz erwerben, eigenständig Verbesserungschancen zu erkennen und zu nutzen.
Ein solches Führungsverhalten setzt ein verändertes Führungsverständnis voraus. Deshalb haben fast alle Unternehmen, die das Shopfloor Management in ihrer Organisation forcieren, ihre Führungskräfteentwicklungskonzepte überarbeitet – gemäß dem Lean Leadership-Development-Modell.
Dieses Modell unterscheidet in der Kompetenzentwicklung von Führungskräften vier Stufen.
Stufe 1: Sich als Führungskraft selbst entwickeln. Dahinter steckt die Annahme, dass künftig eine Kernkompetenz von Führungskräften ist, das eigene Verhalten und Wirken zu reflektieren und die eigene Performance mit System zu steigern.
Stufe 2: Mitarbeiter coachen und entwickeln. Hier geht es darum, als Führungskraft andere Personen so zu entwickeln, dass diese ihrerseits die Kompetenz erwerben, ihr Verhalten und ihr Wirken zu reflektieren und eigene Lernprozesse zu initiieren.
Stufe 3: Das tägliche Sich-Verbessern (Kaizen) unterstützen. Auf dieser Kompetenzstufe geht es darum, Gruppen von Mitarbeitern (Teams, Abteilungen, Bereiche) in eine Richtung auszurichten und den kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu sichern.
Stufe 4: Eine Vision schaffen und die Ziele abstimmen. Nun geht es darum, das Silo-Denken zu überwinden und alle Aktivitäten in der Organisation so aufeinander abzustimmen, dass die übergeordneten Unternehmensziele erreicht werden.
Von einer Führungskräfteentwicklung, die sich an diesem Kompetenz-Modell orientiert, versprechen sich die Unternehmen eine höhere Innovationsgeschwindigkeit ihrer Organisation. Außerdem soll sie mit der Zeit zu einer Entlastung der Führungskräfte führen – und zwar in dem Maße wie ihre Mitarbeiter die Kompetenz entwickeln, eigenständig ihr Verhalten zu reflektieren und ihre Performance zu steigern.
Solange die Mitarbeiter auf der Shopfloor-Ebene jedoch noch keine Routine im eigenständigen Erkennen und Lösen von Problemen haben, müssen die Führungskräfte das Streben nach Verbesserung stets aufs Neue anstoßen. Das Instrument hierzu ist das sogenannte Kata Coaching. Kata werden im asiatischen Kampfsport Verhaltensweisen genannt, die durch stetes Üben und Anwenden soweit verinnerlich wurden, dass sie beinahe reflexhaft ausgeführt werden.
Das schrittweise Entwickeln einer solchen Verhaltenssicherheit bei den Mitarbeitern setzt drei Dinge voraus:
- Die Mitarbeiter müssen wissen, welches übergeordnete Ziel sie erreichen möchten.
- Sie müssen wissen, was sie lernen müssen, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Und:
- Sie müssen einen Weg kennen, um sich die noch fehlende Kompetenz anzueignen.
Hilfsmittel hierbei sind:
- die Verbesserungs-Kata, die aus der Vision abgeleitet die Prozesse beschreibt , um sich dem Idealzustand anzunähern, und
- die Coaching-Kata, mit deren Hilfe die (Problemlöse-)Kompetenz der Mitarbeiter systematisch ausgebaut wird.
Coaching-Tool 1: Verbesserungs-Kata
Die Verbesserungs-Kata gibt den Weg zum Ziel-Zustand nicht vor. Dieser wird vielmehr experimentell ermittelt – in kleinen Mini-Projekten, die die Mitarbeiter dazu ermutigen, ihre Komfortzone zu erweitern. Dabei werden sie von den Führungskräften mittels der Coaching-Kata unterstützt.
Die Verbesserungs-Kata besteht aus vier (Arbeits-)Schritten.
Schritt 1: Sein Ziel ist es, die von der Vision vorgegebene Richtung für die langfristige Entwicklung grob zu verstehen.
Schritt 2: In ihm wird der Ist-Zustand analysiert und beschrieben.
Schritt 3: In ihm werden neue Ziel-Zustände auf dem Weg zum Soll-Zustand definiert. Zudem wird ermittelt, welche Hindernisse hierbei zu beseitigen sind.
Schritt 4: In ihm wird im PDCA-Verfahren schrittweise auf das Erreichen des Zielzustands hingearbeitet. Die Führungskräfte begleiten diesen Prozess.
Coaching-Tool 2: Coaching-Kata
Beim Kata Coaching unterstützen die Führungskräfte als Lernbegleiter und Coaches ihre Mitarbeiter beim Entwickeln neuer Routinen und zwar ebenfalls mittels eines systematisierten Verfahrens, der Coaching-Kata.
Dieses orientiert sich an fünf Fragen, die die Führungskraft ihrem Mitarbeiter (oder ihren Mitarbeitern) bei regelmäßigen Treffen immer wieder stellt.
Frage 1: Was ist der Ziel-Zustand des Prozesses?
Der Ziel-Zustand soll zu Beginn der Coachings vom Mitarbeiter stets aufs Neue beschrieben werden, damit er diesen verinnerlicht.
Frage 2: Was ist der aktuelle Ist-Zustand?
Aktuell bedeutet: Wie ist der Zustand heute – zum Beispiel, nachdem erste Maßnahmen ergriffen wurden?
Frage 3: Was hindert Sie daran, den Ziel-Zustand zu erreichen?
Der Mitarbeiter soll ermitteln, welche Hindernisse dem Erreichen des Ziel-Zustands (noch) im Wege stehen, um hieraus noch vorhandene Handlungs- und Lernfelder abzuleiten.
Frage 4: Welches Hindernis gehen Sie als nächstes an? Was ist der nächste Schritt?
Der Mitarbeiter soll sein weiteres Vorgehen planen.
Frage 5: Wann können wir uns ansehen, was Sie/wir aus dem letzten Schritt gelernt haben?
Diese Frage soll die erforderliche Verbindlichkeit erzeugen – auf der Handlungs- und der Lernebene
(Abbildung 3: Der Kata-Coaching Zyklus)
Indem die Mitarbeiter unter Anleitung ihrer Führungskraft, die als Kata Coach agiert, regelmäßig den beschriebenen Reflektions- und Problemlöse-Zyklus durchlaufen, wächst bei ihnen mit der Zeit die Kompetenz, eigenständig Probleme zu analysieren und zu lösen. Zugleich wird ihnen bewusst, wo sie noch Kompetenzdefizite haben, die sie beheben sollten. Deshalb können sie mit der Zeit, stets komplexere Probleme alleine oder mit selbstorganisierter Unterstützung lösen.
In der VUCA-Welt benötigen die Unternehmen zunehmend Mitarbeiter, die hierzu bereit und fähig sind. Denn in ihr müssen sie immer häufiger auf mal kleinere, mal größere Herausforderungen reagieren, die sich aus den Veränderungen in ihrem Marktumfeld ergeben. Hierfür brauchen sie Mitarbeiter, die selbst erkennen, was es zu tun gilt und eigenständig die erforderlichen Initiativen ergreifen. Insofern ist das Shopfloor Management ein zentraler Baustein, um die Reaktionsgeschwindigkeit der Unternehmen zu erhöhen und ihre Marktfähigkeit zu sichern.
Die Autorin:
Dr. Daniela Kudernatsch ist Inhaberin der Unternehmensberatung KUDERNATSCH Consulting & Solutions in Straßlach bei München. Sie ist Autorin mehrerer Fachbücher zum Thema Strategieumsetzung. 2013 erschien ihr Buch „Hoshin Kanri – Unternehmensweite Strategieumsetzung mit Lean-Management-Tools“ (Tel.: +49/8170-92233; Mail: info@kudernatsch.com; Homepage: http://www.kudernatsch.com).
No comments yet.